Im Jahr 2002 hörte ich von einem Forschungsprojekt, das sich mit der soziologischen Analyse von staatlich in Auftrag gegebenen Kunstwerken in der ehemaligen DDR befasste, von denen viele heute in verschiedenen Depots lagern und nicht ausgestellt werden. Für Museen und Galerien schien eine analytische Herangehensweise an diese Zeit schwierig zu sein, und viele Ausstellungen dieser Kunst blieben noch viele Jahre nach der deutschen Wiedervereinigung umstritten.
Dies inspirierte mich dazu, einen nicht konfrontativen Weg zu finden, um mit diesen 'ungeliebten' Kunstwerken zu arbeiten - und sie sogar zu 'zeigen'. Für Rückblick / Re-Viewing, wählte ich 15 Gemälde aus, die einst dem Büro für Bildende Kunst des Rates des Bezirkes Dresden gehörten und heute Teil der mehr als 30.000 Werke umfassenden Sammlung des Kunstfonds des Freistaates Sachsen in den Staatlichen Kunstsammlungen Dresden sind. Ich wählte Werke aus, bei denen eine Person oder höchstens ein paar Personen im Vordergrund stehen, so dass die Betrachtung des Bildes eine Art Dialog sein konnte.
Anschließend lud ich 30 Personen unterschiedlichen Alters und Hintergrunds ein, das Depot zu besuchen und ein Gemälde aus meiner Vorauswahl auszuwählen. Bei laufender Kamera beschrieben die Teilnehmer das von ihnen gewählte Gemälde. Dass es sich dabei um einige der umstrittenen DDR-Kunstwerke handelte, wurde ihnen vorher nicht gesagt. Sie erfuhren auch nicht das Datum, den Namen des Künstlers oder den Titel des Werks.
Schauen wir Rückblick / Re-Viewing, sehen wir die Menschen, die die Gemälde beschreiben, aber wir sehen nicht die Kunstwerke selbst (nur einen Teil der Rückseite) - und doch spielt das Gemälde selbst eine große Rolle. Weil seine Herkunft im Dunkeln bleibt und weil wir eine sehr persönliche Begegnung mit den Personen und ihre Kommunikation mit und über die Bilder miterleben dürfen, bleibt die sonst oft problematische Auseinandersetzung mit dem Sozialistischen Realismus unvoreingenommen.
Einige Teilnehmer ignorierten den politisch-historischen Kontext völlig und nutzten die Gelegenheit, um über sich selbst oder ihr Leben zu meditieren. In jedem Fall wird das Gemälde vom Betrachter reflektiert, was besonders deutlich wird, wenn dasselbe Gemälde auf eine völlig andere Weise beschrieben wird.
Meine Rolle in dem Projekt war die des Moderators und Kommunikators, obwohl ich unsichtbar bleibe: Ich bin derjenige, dem die Teilnehmer das Bild erklären. Es entsteht eine Dreiecksbeziehung zwischen mir (und jetzt Ihnen, dem Betrachter), der Person auf der Leinwand und der/den Figur(en) auf dem Gemälde.
Als amerikanische Künstlerin, die zu dieser Zeit in Dresden lebte, war es für mich wichtig, mich der Situation der ostdeutschen Kunst im Depot mit Vorsicht und Sorgfalt zu nähern. Ich glaube, da ich die emotionalen Bedenken nicht teilte, die in den Debatten über den Status der ostdeutschen Kunst aufkamen, ermöglichte meine Perspektive eine andere Art der Betrachtung – und vielleicht sogar Wertschätzung – dieser Werke.
"...und das ist wahrscheinlich noch lange, lange nicht genug, um das Bild wirklich zu erklären, dass du dir das vorstellen kannst, aber das ist ungefähr alles, was ich sehe im Moment."
Einer der Teilnehmenden am Rückblick / Re-Viewing
Ich bin sehr froh, dass es Sammlungen gibt, in denen ein Werk von mir nach 20 Jahren wieder ausgestellt werden kann - so wie Rückblick / Re-Viewing im Jahr 2024 im Rahmen der Kunstkammer Gegenwart in the Residenzschloss / SKD. Of course, the ‘care’ of works of art in collections – and thus of our culture, our history – is important. I have never made fun of it.
Aber Tatsache ist, dass die meisten der gesammelten Kunstwerke nie wieder das Licht der Welt erblicken werden. Sie bleiben pflichtbewusst im Lager, bis jemand sie (wieder) sehen will.
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Rückblick / Re-Viewing wurde erstmal gezeigt in der Ausstellung Unbekannte Schwester / unbekannter Bruder im Kunsthaus Dresden.
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Meinen herzlichen Dank an alle, die mitgemacht haben:
Ulrike Ahnert, Claudia Beger, Uta Beyer, Mario Brauer, Wolfgang Bruchwitz, Will Clapp, D-M-F, Brigitte Drechsel, Gudrun Drechsel, Katharina förster, Erik Frömder, Arvid Gillert, Patricia Glöß, Josef Haslinger, Eckart Hempel, Marion Hensel, Stefanie Hensel, Franz Herbst, Julie Hibbard, Ludwig Kellner, Jeny Köhler, Hendrik Köppen, Jørgen Mortensen, Valérie Madoka Naito, Stefan Rettich, Matthias Runge, René Somburg, Simone Somburg, Alexandra Starosta, Waltraut Unger.
*Das Projekt war Teil des Sonderforschungsbereichs 537 Institutionalität und Geschichtlichkeit an der Technischen Universität Dresden. Es trug den Titel “Kulturelle Institutionalisierungsprozesse in der europäischen Moderne” und stand unter der Leitung von Prof. Dr. Karl-Siegbert Rehberg.